Von Ruedi Wipf, CEO bei Consor
Könnte ein vollautomatisiertes Underwriting schon bald die Zukunft der Industrieversicherung sein?
In einer von Willis Towers Watson durchgeführten Umfrage im März 2023 gaben 45 Prozent der Teilnehmenden an, dass das Industriegeschäft zu individuell sei, um die Risikoeinschätzung in einem automatisierten Prozess vorzunehmen. Immerhin 55 Prozent der Befragten waren der Meinung, aufgrund der zunehmenden Digitalisierung sei ein weitgehend automatisiertes Underwriting bis in fünf Jahren denkbar.
Die Realität in der Industrieversicherung sieht im Jahr 2024 jedoch noch völlig anders aus.
Der Automatisierungsgrad durch Software-Unterstützung ist bei vielen Maklern und Versicherern noch gering.
Nehmen wir das Beispiel der Industrie-Sachversicherung und nehmen wir an, ein mittelständisches Unternehmen mit 20 Standorten in Süddeutschland benötigt eine Sachversicherung für Gebäude und Inhalt. Für die 20 Standorte wird neben den Adressen eine Vielzahl von Risikomerkmalen erhoben wie Überschwemmungszone, Bauart, Brandmeldeanlage, Feuerlöschanlage und vieles mehr. Je nach Betriebsart und versicherten Gefahren kommen pro Standort weitere Risikomerkmale hinzu. Grössere Standorte lassen sich in einzelne Bereiche unterteilen – beispielsweise Produktionshalle, Lager und Administration. Dadurch vervielfacht sich die Anzahl der zu erhebenden Risikomerkmale.
Oft werden all diese Datenpunkte noch manuell erhoben – mit Papier und Kugelschreiber oder in einer Excel-Tabelle. Im Rahmen einer Ausschreibung werden diese Daten typischerweise per E-Mail vom Makler an verschiedene Versicherer verschickt. Die gängigen «Datenformate» sind dabei Word, Excel, PDF oder einfach Plain-Text in einer ungesicherten E-Mail.
Seitens Versicherungen muss diese unstrukturierte Flut an Daten wieder manuell weiterverarbeitet werden. Viele Industrieversicherer arbeiten dabei für die Risikoprüfung und Tarifierung noch mit Excel. Entsprechend werden die erhaltenen Daten manuell von einer Excel-Tabelle in eine Andere abgetippt. Alles nicht sehr effizient und digital – zudem fehleranfällig und zeitaufwendig.
Ursprünglich zählte die Versicherungsbranche zu den Pionieren in der Informatik.
Bereits in den 1970er Jahren haben Versicherungen stark in die damals noch EDV genannte Digitalisierung investiert. Wie kommt es also, dass ausgerechnet in der Industrieversicherung der Digitalisierungsgrad heute so tief ist?
Ein entscheidender Grund dafür liegt in der fehlenden Standardisierung des Datenaustauschs. Grundsätzlich erhebt und verarbeitet jeder Industrieversicherer in etwa die gleichen Daten. In der Industrie-Sachversicherung eben beispielsweise – wie oben beschrieben – Überschwemmungszonen, Bauweise, Betriebsarten, etc.. Es gibt dafür aber keinen umfassenden und breit abgestützten Datenaustauschstandard und noch keine entsprechende Datenaustauschplattform.
Zwar hat der Verein BiPRO e.V. mit den 420er-Normen die Prozesse Tarifierung, Angebot und Antrag (TAA) für das Privat- und Gewerbegeschäft abgedeckt und mit der 419er-Normen auch eine Beschreibung der Risikodaten standardisiert. Diese BiPRO 419er Normen sind eigentlich nur eine Hülle – die konkreten Datenstrukturen wurden nicht im Detail ausgearbeitet. Entsprechend sind diese Normen in der Industrieversicherung noch weitgehend unbekannt und kaum in konkreten IT-Systemen abgebildet. Der BiPRO e.V. möchte aufgrund der Nachfrage aus der Industrie ab Q1/2025 das Thema in einer Fachgruppe wiederbeleben. Affaire à suivre.
Einen vielversprechenden Weg geht die Plattform Corify – eine Tochter des InsurTechs Hypoport. Corify will eine standardisierte und ganzheitliche Risikobeschreibung und damit einen transparenten Markt ermöglichen. Über die Plattform werden die Risiken der versicherungsnehmenden Industrie mit den Anforderungen von Versicherern und Vermittlern in einem digitalen Prozess zusammengeführt. Corify ist mit der Spezifikation und Umsetzung der Plattform schon einen weiten Weg gegangen und konnte bereits Makler wie Pantaenius oder den Flottenversicherungsdienstleister Auto Fleet Control als Teilnehmer des Marktplatzes gewinnen.
Neben privatwirtschaftlichen Initiativen wie derjenigen von Corify, gibt es auch auf Verbandsebene Bewegung hin zu einem standardisierten Austausch von Risikodaten.
Anfang September 2024 liess der Gesamtverband der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW) verlauten, das Projekt RD-X stehe kurz vor dem Start. RD-X steht dabei für Risk Data Exchange. Ziel dieser Initiative des GVNW ist es, den Austausch von Risikodaten zwischen Kunden, Maklern und Versicherern effizienter und sicherer zu gestalten. Hierbei soll eine Plattform entwickelt werden, die es ermöglicht, Risikodaten digital und standardisiert zu übermitteln. Der Fokus liegt dabei auf einer Erhöhung der Effizienz im Risikodatenaustausch zwischen allen Marktbeteiligten.
Noch ist es aber nicht so weit. Unter Führung des GVNW soll zuerst ein Verein gegründet werden, der dieses Projekt finanziert und durchführt. Die Initiative der versicherungsnehmenden Wirtschaft wird von mehreren grossen Versicherern und Maklern unterstützt. U.a. mit dabei sind BASF, HDI Global SE, Swiss Re Corporate Solutions, Ecclesia Group, Zurich Insurance und Funk.
Steht diese Initiative des GVNW in Konkurrenz zu Corify? Nein, im Gegenteil! Nicht nur Industriekunden und Versicherer wünschen sich einen standardisierten Datenaustausch. Auch privatwirtschaftliche Anbieter von Softwarelösungen hoffen auf entsprechende Standards und Prozesse zum sicheren und automatisierten Austausch von Risikodaten.
Nur ein kooperatives, engagiertes Vorgehen aller Marktteilnehmenden kann mittelfristig sicherstellen, dass die Chancen der Digitalisierung genutzt werden können und nicht weiterhin eingescannte, handschriftliche Risikodaten verschickt werden müssen.